Sonntag, 6 Dezember 2009#
Mit nassen Nikolausstiefeln nach Xichang
3. bis 6. Dezember
Die letzten Tage zusammengefasst: Hardcore!
Durch Miesepeterwetter (trüb, nasskalt) geht es einmal über die ersten Vorläufer der Tibetischen Hochebene (http://de.wikipedia.org/wiki/Hochland_von_Tibet).
Dabei fängt es (wie so oft) entspannt und harmlos an: Ebian - die Stadt mit dem fehlenden D - erreiche ich frisch und fröhlich. Trotz langer Radpause läuft es gut. Ein Hotel ist schnell gefunden.
Das Verkehrschaos vor dem Hotel ist keine spontane Verstopfung - wie ich zuerst angenommen habe - sondern chronisch. Durch diese Gasse drückt sich offenbar der gesamte Verkehr der Stadt. Die Straße ist hoffnungslos verstopft und es wird gehupt wie verrückt.
Ich habe lange gesucht und es endlich gefunden: Hier, genau hier vor dem Hotel, liegt Chinas Epizentrum des Hup-Wahnsinns. Schlimmer geht es nicht mehr! Durch die enge Häusergasse wird der Schall noch mehr gebündelt und NOCH schmerzhafter. Mir ist es unbegreiflich, wie man hier länger als eine Minute auf der Straße stehen kann.
Besonders praktisch: das Zimmer liegt genau zur Straße und das Fenster bleibt immer einen Spalt offen - offenbar hat sich hier der Installateur verrechnet. Komplett geschlossen bekomme ich es jedenfalls nicht. Die Nacht ist daher laut, Auspuff-lastig und kalt.
Dennoch verläuft der erste Radeltag entspannt und gut. Straße und Landschaft sind OK. Das diesige Wetter versaut leider viele schöne Ausblicke ins Tal.
Am nächsten Morgen steigen wir nach kurzem Frühstück von 700 Metern üNN auf 3000. Es geht immer wieder am Fluss runter auf unter 1000 und dann wieder rauf, meist am Ende kleiner Dörfer, wo sich dann problemlos kleine Kinder oder Matcho-Mofafahrer an unser Hinterrad klemmen können.
Wenn ich eins auf meiner Reise gelernt habe, so ist es “ignorieren” bzw. “Tunnelblick optimieren”. Es ist noch nicht perfekt, aber oft ausreichend.
Der Freitag, der so harmlos und entspannt angefangen hat, entpuppt sich als echte harte Nuss - Kategorie “eine der härtesten Etappen”.
Das Tagesziel “Hongxi” mag und mag einfach nicht näher kommen. Immer noch eine Kurve, darauf noch eine Steigung - alles in stockdunkler Nacht.
Die kleinen Häusersiedlungen am Wegesrand sind gespenstig ruhig und dunkel. Und plötzlich wie aus dem Nichts: Schlammpiste. Der Asphalt verschwindet und große, glitschige Steine machen das Vorankommen zur Qual. Ab hier ist Absteigen angesagt.
Nach über einer Stunde schieben schmerzen meine Handgelenke. Der Schlamm an den Reifen wird immer zäher. Das Thermometer zeigt Minusgrade - er gefriert!
Gepaart mit Eisregen und tiefen Pfützen wird das mit jedem Meter eine größere Herausforderung. Die Schuhe sind nass, aber zum Glück bleiben meine Füße trocken.
Links die senkrechte Bergwand, rechts nach zwei, drei Metern steiler Abgrund - so jedenfalls meine Vermutung, denn die Sicht ist unter 10 Metern.
Nach zwei Stunden erschweren leichte optische Täuschungen die Orientierung. Plötzlich ist links wieder freie Sicht, so scheint es. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das aber als Schnee, der im fahlen Licht sehr anders aussieht.
Trotz der widrigen Verhältnisse bin ich relativ ruhig und zuversichtlich, dass der Tag gut ausgehen wird. Schließlich finden wir in einer kleinen Parkbucht Platz für unser Zelt und fallen um kurz vor zwei Uhr in tiefen Schlaf.
Um vier Uhr zieht ein heftiger Sturm übers Zelt hinweg. Bange Minuten. Haben wir die Heringe fest genug eingedrückt? Ja, es bleibt sicher stehen.
Am nächsten Morgen sehen wir zum ersten Mal unsere Umgebung richtig. Die Nähe zum Abgrund wird im schwachen Sonnenlicht doch um einiges deutlicher.
Der Wind hat den Nebel weitestgehend vertrieben und als kleine Entschädigung bietet sich ein schöner Blick ins Tal. Auch der Gipfel ist sichtbar!
Den letzten Kilometer geht es im Schatten des Berges nur in Minischritten voran. Die Straße ist spiegelglatt und nochmal extra-steil.
Als sich die Straße ebnet, entspannt sich auch Geist und Körper - das wäre geschafft!
Am Seitenrand tucker’ ich langsam den Berg hinunter. Immer wieder muss ich anhalten, denn die neue, eingefrorene Landschaft mit dem gespenstigem Hochnebel ist herrlich bizarr.
Irgendwann kommt dann die Sonne raus und zeigt dem Trübsal, was eine Harke ist. Im Nu ändert sich das Wetter, die Straße und das Gemüt.
Rad und Straße sind nach wenigen Metern trocken, die letzten Eisklumpen verdampfen regelrecht oder fallen angewidert vom Rad. Endlich kann ich nach kirgisischer Manier den Berg runter “brettern”.
Tatsächlich erinnert mich das ganze Szenario sehr an die kirgisischen Etappen (auch der “Nervfaktor” der Menschen ist annähernd gleich).
Im Tal wird der Belag wieder asphaltiert und laaangweiliger, dafür aber schneller, und eine gute halbe Stunde später erreiche ich das nächste Dorf.
Gegen 16 Uhr erreichen wir Hongxi und entschließen, im hiesigen “Hotel” ein Zimmer zu nehmen. Die warme Dusche ist kalt und auf dem Gang feiern die Chinesen ihr Wochenende. Es ist durchgehend laut und ungemütlich.
Morgens um 6 Uhr rotzt ein Gast dermaßen laut auf den Gang, dass ich denke, er kotzt gleich gegen meine Tür. Unangenehm. Unnötig.
Dabei haben wir uns für den morgigen Sonntag ein besonderes Schmankerl ausgesucht: Wir wollen den Weg bis nach Xichang in einem Rutsch durchziehen. Gut 150 Kilometer - eine große Etappe mit anspruchsvollem Profil.
Um 8 Uhr sitzen wir im Sattel und treten in die Pedalen.
Der Weg schlängelt sich meist hübsch bergab flussabwärts Richtung Meigu. (Wichtig: “flussabwärts” ist nicht gleich “nur bergab”! Es kann durchaus der ein oder andere knackige Anstieg drin sein).
Die ersten vierzig Kilometer sind sehr schnell und leicht. Leider versteckt sich die Sonne hinter dichten Wolken. Ab Meigu ist es dann genau umgekehrt: ab jetzt geht es mal hoch, mal tief flussaufwärts Richtung Zhaojue. Die Straße wird eng und schlechter. Dafür knallt die Sonne. Ein fairer Tausch.
Besonders nervig ist aber wieder das ständige Gehupe.
Kleine und große Busse, 4-Radantrieb-Kollosse, Kleinwagen, Mofas und Dreirädern - alle hupen. Vor jeder Kurve, nach jeder Kurve, vor jedem Hügel, nach jedem Hügel, vor jedem Überholmanöver, bei jedem Überholmanöver und auch gerne einfach mal so, um mitzuteilen, das man “da ist”. Man weiß ja nie, was passieren kann.
Besonders erwähnenswert sind die grün-weißen Kleinbusse (Dorf-Taxi). Ständig überholt mich eines dieser Dinger und zu 80 Prozent hängt mindestens ein Kopf aus dem Fenster und kübelt, hat gekübelt oder bereitet sich auf den nächsten Schub vor.
Die meisten Busse haben auf jeder Seite unter den Fenstern hellbraune Kotzflecken, . Auf der Straße liegen öfter kleine Häufchen und Spritzer. Unachtsamkeit wird bestraft: einmal länger ins Tal geschaut und schon hört man unterm Reifen “schwiff schwiff schwiff”. Volltreffer!
Das ist NICHT lustig, denn bei den vielen Kurven und dem sehr aggressiven Fahrstil der Busfahrer es kann jeden treffen! Vor allem wenn man schön langsam rechts am Straßenrand fährt.
Sonst ist die Strecke langweilig. Die Dörfer unsympathisch und laut. Nur einmal machen wir Halt und frühstücken eine Nudelsuppe. Sonst ist Flüssignahrung das Mittel der Wahl.
Am Ende des Tages stehe ich irgendwie auf einem 3300 Pass und genieße die Abendsonne, wie sie hinterm Himalaya untergeht. Wahnsinn!
Bis nach Xichang sind es noch 40 bis 50 Kilometer, diesmal jedoch schööön bergab, so die logische Schlussfolgerung . Denn Xichang liegt an einem Fluss, also tiefer.
Wir entscheiden uns, diesmal auf Campen zu verzichten und das Vorhaben durchzuziehen. In der Stadt gibt es sicher ein Hotel und wenn alles gut läuft sind wir gegen 21 Uhr dort.
Wir rollen also bergab und nach wenigen hundert Metern ein Schreck: es geht wieder stramm bergauf. Oh weh!
War das doch nicht das Ende der Fahnenstange? Doch! Das war die letzte Steigung. Ab jetzt geht es nur noch bergab. Und wie.
Mit allen Lichtern und Reflektoren ausgestattet brettern wir die Straße runter. Die Abfahrt dauert Stunden und geht mächtig auf die Konzentration. Trotz guter Lichtmaschine hat man trotzdem immer nur einen kleinen Ausschnitt geradeaus. Die Stirnlampe reicht kaum aus, um die Kurve ordentlich auszuleuchten.
Dazu ist die Straße in schlechtem Zustand und öfter müssen wir Steinen und Schlaglöchern ausweichen. Zum Glück ist die Straße kaum befahren, doch die wenigen Gegenlichter genügen, um jedesmal kurz zu “erblinden” und in die Bremsen zu gehen.
Sonst ist es stockdunkel. Wirklich kein Licht außer unseren. Der Sternenhimmel dadurch beeindruckend! Die Milchstraße zum greifen nah. Trotz leichtem Zeitdruck machen wir zweimal Halt und genießen die Ruhe und Dunkelheit. Schwer zu begreifen. Trotz oder gerade wegen der harten Arbeit wunderschön.
Um kurz vor 22 Uhr beziehen wir in Xichang unser warmes Hotelzimmer. Die Dusche ist super, nebenan gibt es ein Restaurant und Einkaufsmöglichkeiten.
Wir klären noch an der Rezeption, wie wir am besten zum Bahnhof kommen, dann schlafen wir ein.
Am Morgen fahren wir zum Bahnhof, ich besorge zwei Tickets für den nächsten Zug und wir geben unsere Räder sowie das schwere Gepäck ab. Läuft alles wie am Schnürchen. Nur mit nötigstem Gepäck fahren wir dann zurück in die Stadt und schauen uns um.
Die Stadt ist unspektakulär, so dass wir die Zeit dort ohne schlechtes Gewissen mit Frühstück und diversen Mittagessen verbringen. Um kurz nach 20 Uhr steigen wir in den Zug, beziehen unser Hardsleeper-Appartement (2x3er Hochbetten) und schlafen dort recht bald ein.
Ort: Xichang, Xichang, Sichuan, China GPS: 27.90334129333496, 102.2740707397461