Donnerstag, 10 September 2009#

Willkommen in der Steinzeit#

Durch den (zugegeben etwas übermäßige) Melonenkonsum von drei Stück pro Tag (diverse Sorten) verlängert sich meine Aufenthalt in Jalalabad auf eine Woche.

Vor allem die Wasser-Melonen werden hier oft mit einem Mittel behandelt, damit sie schneller reifen. Das Mittel löst - auch bei den Einheimischen - heftige Probleme im Magen-Darm-Trakt aus. Bildlich: Es sind dann eher “Wasserfall-Melonen” und der Geschmack ist leicht pelzig und unnatürlicher. Von Außen kann mal das leider nicht feststellen und auch der seltsame Geschmack ist vor allem nach der wochenlangen Abstinenz erst zu spät wahrnehmbar.

So verbringe ich eine gute Woche in Jalalabad, immer in sicherer Reichweite des WC.

Da die Unterkunft auch als Sprachschule für Einheimische dient, lerne ich in dieser Zeit viele Kirgisen kennen, erkunde die Stadt und Umgebung und gebe sogar zwei Studentinnen Unterricht in Englisch und Deutsch. Mein Fotoalbum wird dabei zu einem hübschen Bilderbuch (“Da! Schal!… Da! Frau!”). Ich bin mir sicher, dass ihnen Deutschland in sehr guter Erinnerung bleiben wird :)

Trotz der Beschwerden vergeht die Zeit wie im Flug und ich werde Jalalabad - vor allem durch die herzliche Aufnahme von Bruder Damian und Bruder Vladimir - in sehr guter Erinnerung behalten.

Zudem genieße ich dort die bislang besten Manti (Teigtaschen mit Kürbis- oder Fleisch-Füllung), in einem Lokal, dass mir von einer Studentin empfohlen wird!

Als Abendmahlzeit probiere ich an Tag 5 “TAN”. Irgendwie lacht mich die weiße Flasche an. Da Experiment entpuppt ein tolles Milch-Getränk, dass wie flüssiger Feta-Käse mit viel Sprudel-Wasser schmeckt. Genau mein Geschmack! Es ist total (!) erfrischend und lindert meine Beschwerden umgehend.

Mein Zustand bleibt auch die nächsten Tage stabil, aber trotz ruhiger, unbeschwerter Nächte beginnt die Fahrt nach Osh mit butterweichen Knien und zittrigem Kreislauf. Zum Glück sind die ersten Kilometer recht flach, dennoch komme ich kaum richtig in Fahrt.

Die erste Steigung des Tages fühlt sich sehr seltsam an: die Beine sind wie Gummi und der Puls nervös. Der fiese Gegenwind zwingt mich dazu, meinen Schal immer weiter ins Gesicht zu ziehen. Zum Glück ist die Straße gut ausgebaut, dafür aber stark befahren und es geht ständig auf und ab.

Die Menschen sind (wieder) sehr “anhänglich”: pfeifen, rufen, grölen mir hinter her. Wie immer versuche ich das mental so gut es geht auszublenden, doch heute wird es zunehmend “körperlicher” und aggressiver. Ich komme mir vor wie ein Stück Vieh, dass von ihnen vorangetrieben wird.

Zwei Kinder rasen lachend mit dem Rad auf mich zu, schneiden mir den Weg ab und fahren dann - als wäre nichts geschehen - eine zeitlang neben mir her “Wettrennen machen”. Heute habe ich für solche “Späße” weder Kraft noch Nerven, mein sonst gut ausgeprägtes Mitlachen und Lächeln verschwindet in der hintersten Ecke und meine Stimmung verdüstert sich zunehmend.

Passend dazu ist das Wetter sehr unbeständig. Mal dunkle Wolken und eiskalter Wind, mal plötzlicher Sonnenschein und eine Wand aus warmer Luft. Sofort rinnt Schweiß aus den Poren, der dann Minuten später die Kälte bis auf die Knochen transportiert.

Kaum packe ich den Fotoapparat aus, hastet eine Horde kleiner Kinder auf mich zu (“Tourist! Tourist!”). Es ist wie in einem Zombiefilm - kaum hat man seine Position preis gegeben, kommen sie und holen dich!

Der Zwischenstopp an einer Tankstelle endet fast in einer Schlägerei, als ein total besoffener Kirgise mein Rad befummelt und offensichtlich umschmeißen will. Seine Freunde drängen ihn ins Kassenhäuschen und ich mache mich fäuste-schwingend davon. In einem anderen Dorf versucht ein Hirte mit seinem Stock mein Vorderrad zu blockieren… Zum Glück ist gerade kein Auto in der Nähe, weshalb ich ausweichen kann.

Der Weg ist gesäumt von Menschen, die mir auf die Nerven gehen und offenbar auch ans Leder wollen. Kaum ein Streckenabschnitt, der unbewohnt ist und eine richtige Rast ermöglicht.

Meine Oberschenkel sind steinhart und schmerzen jedes Mal stärker, wenn ich von einer Pause weiter fahren möchte. Es dauert Minuten, bis der Schmerz nachlässt. Auch in meinem Kopf verkrampft sich alles.

An Unfreundlichkeit sind diese Kilometer mit Abstand das heftigste, was ich auf meiner Reise erlebt habe. Die Gegend und die Menschen sind durch und durch aggressiv und spätestens als der erste Stein haarscharf meinen Helm verfehlt und auf meine Lenkertasche knallt habe ich nur noch einen Gedanken: weg aus diesem verfluchten Land!

Ich fühle mich zu keiner Zeit durch die Anwesenheit der Kirgisen gut, eher bedroht als aufgemuntert und will einfach nur weg, weg von diesen Bauerndeppen, zurück in die Zivilisation.

Erstes positives Erlebnis am Tag ist der Wegweiser nach Osh, der weit weniger Kilometer anzeigt, als ich erwarte. Und in der Tat erreiche ich wenig später die Stadt.

Die Hoffnung auf Besserung wird bereits an der ersten Ampel dünn: wellige Straßen, Dreck, bettelnde Kinder strecken mir die Hand entgegen, nach wenigen Metern erhalte ich aus einem schwarzen Mercedes ein herzhaftes “F*ck off!” und das dazu passende Handzeichen, das eindeutig mir gilt. Danke dafür!

Ich schüttele nur noch den Kopf und versuche zu lachen. Ich stelle mir meinen Tag aus der Vogelperspektive vor. So viele groteske Situationen an einem Tag sind fast schon filmreif.

In der Stadt folge ich dem geringsten Widerstand und fließe mit dem Verkehr irgendwo hin. Keine Ahnung, ob ich Richtung Guesthouse fahre…

Irgendwann sehe ich rechts ein Restaurant und esse eine Portion Manti. Ich bin durchgefroren, am Ende. Die Bedienung deutet mir, dass ich auf der Straße zurück fahren muss. Echte Kommunikation ist leider Fehlanzeige, dennoch versuche ich mein Glück und fahre zurück.

Als ich die Straße Richtung Basar rolle sehe ich vor mir ein Rad mit einem blauen Radschild als Aufkleber - so wie wir es in Deutschland (!!) haben.

Mit letzter Kraft trete ich in die Pedale, versuche den Radler einzuholen und mich hinter ihm bemerkbar zu machen.

Es ist Chris aus Schottland, der mit seiner Freundin auch auf dem Weg nach China ist. Wenige Minuten später sitzen wir zusammen mit einem weiteren Pärchen aus Australien / Neuseeland im warmen Guesthouse.

Schnell wird die Küche zum Reisezentrum. Wir hängen über den Landkarten, tauschen unsere Geschichten aus den bisherigen Ländern aus und ich kann endlich mein TAN genießen, dass ich an der Tankstelle gekauft habe.

Meine Erfahrungen vom heutigen Tag lösen bei allen Bestürzung aus. Das Land gibt uns allen zu denken und bis lange in die Nacht liege ich mit heftigem Herzrasen wach und denke über den Tag nach.

Was für ein Kontrast: Der Chef vom Guesthouse kann Deutsch, ist sehr sympathisch und ich fühle mich sofort willkommen. Die Unterkunft günstig, zentral, sauber und vor allem ruhig! Ich habe es geschafft! Ein ganz großes Danke an den Kameramann da oben!!


Ort: Osh, Osh, Osh, Kyrgyzstan GPS: 40.53566360473633, 72.80400848388672